Klick von Gerd Gigerenzer
Klick von Gerd Gigerenzer

Manchmal bietet das Leben merkwürdige Zufälle. Ende Juli hat mir der C. Bertelsmann Verlag das neue Buch von Gerd Gigerenzer, Klick, (Werbe-Link zu Amazon) nach seinem Erscheinen im September zur Rezension angeboten. Das hatte ich vergessen, als ich mir im August Karten für die PhilCologne für die Veranstaltung „Kontrolle behalten in der digitalen Welt“ gekauft habe. Auf der Bühne saßen eben Gerd Gigerenzer und der Journalist Christian Schiffer. 

Die Veranstaltung war super: Christian Schiffer stellte Gigerenzer Fragen rund das Web. Gigerenzers Beispiele erstaunten, verblüfften, ließen schmunzeln. Fast hätte ich mir das dort angepriesene neue Buch Klick von Gerd Gigerenzer gekauft. Habe ich dann aber doch nicht. „Schon wieder ein Buch zum Netz“, dachte ich. „Och nö!“. Was habe ich da gestaunt, als eine Woche später das längst vergessene Rezensionsexemplar im Briefkasten lag. Das ist mit gut 350 Seiten ein ziemlicher Trümmer. Um das vorweg zu nehmen: Sich den Inhalt bei der PhilCologne erzählen zu lassen, war angenehmer, als es zu lesen. Auch wenn das Buch weniger wissenschaftlich geschrieben ist, als der Psychologe und ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts es vermuten lässt: Es ist harte Kost.

Klick von Gerd Gigerenzer ist keine Handlungsanleitung

Nicht uninteressant, keineswegs. Aber ich musste mich schon durch die Seiten zwingen. Das mag jedoch auch daran liegen, dass ich viel vom Geschriebenen schon bei der PhilCologne gehört hatte. Und davon abgesehen natürlich auch schon viel weiß aus diesem Bereich. Meine Hauptkritik am Buch deckt sich mit meinem Kritikpunkt am philosophischen Gespräch. Der Buchtitel „Wie wir in einer digitalen Welt die Kontrolle behalten und die richtigen Entscheidungen treffen“ hält nämlich dieses Versprechen nicht. Genau so wenig wie der Veranstaltungstitel „Kontrolle behalten in der digitalen Welt“ es gehalten hat.

Das liegt daran, dass es in Digitalien oft nur die Wahl gibt zwischen „Ich nutze ein Angebot mit allen Konsequenzen“ und „Ich nutze es nicht“. Sehr oft habe ich als Verbraucher*in aber nicht die Möglichkeit etwas zu beeinflussen. Beispiel: Es ist natürlich wichtig zu wissen, wo die Krux bei Algorithmen liegt. Aber dieses Wissen hilft mir nicht zwingend, an meiner Situation etwas zu verändern. Ich habe letztlich keinen Einfluss auf die Algorithmen. 

Aber der Reihe nach. Um was geht es überhaupt in diesem Buch? Zum Beispiel um Dating- oder Partnersuche-Plattformen. Meine frühen Erfahrungen mit solchen Angeboten vom Beginn des Jahrtausends waren so abschreckend wie die Inserate in Zeitungen. In beiden Fällen haben sich die Herren als attraktiver beschrieben, als sie waren. Dass in den Profilen gelogen wird, ist also nichts Neues: Das ist früher bei Zeitungsanzeigen auch schon so gewesen. Auch die unsinnigen Werbeversprechen der heutigen digitalen Angebote sind nicht neu. Abzocke mit der Liebe gab es auch schon, als Anzeigen nur auf Papier erschienen sind.

Von Dating-Plattformen und selbstfahrenden Autos

Ich weiß trotzdem von mindestens zwei Paaren, die sich über solche Portale gefunden haben und verheiratet sind. Die Portale können also dabei helfen, mit Menschen in Kontakt zu kommen, die ebenfalls auf der Suche nach dem richtigen Partner oder der richtigen Partnerin sind. Das kann über diese Portale einfacher funktionieren, als wenn man jeden Abend ausgehen oder in den Supermarkt gehen müsste, um möglichen Partner*innen zu begegnen. Darum finde ich, das Dating-Plattformen als Negativ-Beispiel für Algorithmen nur bedingt geeignet sind. 

Sehr interessant finde ich in diesem Zusammenhang etwas anderes. Beim Love Scam versuchen Betrüger zunächst über die sozialen Medien ein Vertrauensverhältnis zu einem Mann oder einer Frau herzustellen. Besonders perfide: der Algorithmus hinter der Werbung auf Facebook ermöglicht es den Betrügern, ihre genau definierte Zielgruppe leichter zu erreichen, sagt Gerd Gigerenzer. Der Experte geht noch weiter. Weil auf Facebook viele Leute kritisch sind, wenn sie eine Mail von einem Fremden bekommen, gehen die Betrüger zur Kontaktanbahnung zunehmend auf Dating-Portale, um dort ihre Opfer zu finden. 

Interessante Einblicke gibt das Buch auch beim Thema selbstfahrende Autos. Dabei unterscheidet der Autor nach den Kategorisierung der Society of Automotive Engineers nach fünf verschiedenen Stufen auf dem Weg zum autonom fahrenden Auto. So geht es in Stufe eins beispielsweise um den Tempomat und Spurhalteassistenten. In Stufe zwei hilft die Technologie beim Einparken. Bei Stufe drei fährt das Auto zwar ziemlich selbstständig – aber der Mensch muss weiterhin auf dem Fahrersitz sitzen und aufpassen. Stufe vier und Stufe fünf sind die Stufen, die beispielsweise auf einem begrenzten Gelände wie einem Flughafen oder an Fabriken möglich sind, die laut Autor aber niemals auf der Straße sein werden. Zuviel Unvorhersehbares sei in einer normalen Umwelt.

Neurone Netze bewerten Muster

Die Begründung dafür ist interessant: Während der Mensch eine Vorstellung davon hat was der Sinn beispielsweise eines Busses ist, und wie ein Bus aussieht, achtet ein neuronales Netz nur darauf, Bilder miteinander zu vergleichen. Hat also ein Schulbus in den USA  immer einen schwarzen Streifen auf gelben Hintergrund, wird das neuronale Netz sehr oft davon ausgehen, einen Schulbus vor sich zu haben, wenn es gelb mit schwarzen Streifen sieht. Auch wenn das Gesehene nichts mit einem Schulbus zu tun hat. Oder andersrum: Hat ein Schulbus keinen schwarzen Streifen auf einem gelben Hintergrund, wird er ihn nicht als solchen erkennen. 

Neuronale Netze entdecken also relevante Muster in Bildern, mit denen sie trainiert werden. Beispiel Zebra: Während der Mensch weiß, dass das Zebra ein Tier ist und vier Beine hat, wird das neuronale Netz nur auf das schwarz-weiße Muster achten. Sieht es ein Bild eines Zebras mit sechs Beinen, wird es entsprechend sicherer sein, dass es sich um ein Zebra handelt, weil das Muster häufiger zu sehen ist. Der Mensch dagegen wird sich wundern. Entsprechend schwierig wäre es für eine künstliche Intelligenz, sich in einem Umfeld zu bewegen, in dem viele unvorhergesehene Dinge passieren, die sich nicht mit Mustern erkennen lassen. Dafür würde ein selbstfahrendes Auto keinen Unfall bauen, weil es übermüdet ist oder zu viel Alkohol getrunken hat oder nebenher meint, sein Smartphone bedienen zu müssen.

Was tun mit Google und Facebook?

Im Kapitel über Facebook und Google in Klick von Gerd Gigerenzer geht es ebenfalls um Algorithmen. Die logische Schlussfolgerung eines jeden Nutzers und jeder Nutzerin müsste nach der Lektüre des Buches sein, nicht mehr mit Google zu suchen und bei Facebook das Profil zu löschen. Nun ist es relativ einfach, andere Suchmaschinen als Google zu benutzen, Suchmaschinen also, die mehr Privatsphäre bieten. Auf Facebook zu verzichten, bedeutet jedoch auch, auf ein soziales Netzwerk zu verzichten, indem sich Freund*innen und Kolleg*innen austauschen. Der Druck aus dem Offline-Netzwerk, in der digitalen Welt dabei zu sein, kann ziemlich hoch sein.

Auch die Seiten zum Thema Smart Home sehe ich kritisch. Natürlich ist mir bewusst, dass ein Smart Home gehackt, dass es ausspioniert werden kann, dass überall Daten gesammelt werden – von Glühbirnen oder vom Fernseher. Aber was ist die Alternative dazu? Komplett auf die neue Technologie zu verzichten? Letztlich ist sie eben auch bequem, und sie bietet in vielen Situationen auch Vorteile. Ich hätte mir sowohl bei der Diskussion in Köln als auch im Buch lebensnahe Tipps gewünscht, wie man die teilweise gar nicht mehr so neuen Technologien nutzen kann. Und trotzdem die Kontrolle behält.

Klick von Gerd Gigerenzer wirft einen unschönen Blick in die Zukunft

Durchaus bedenkenswert finde ich allerdings die Informationen zum Social Scoring in China. Gigerenzer amüsiert sich ein wenig darüber, dass wir im Westen häufig entsetzt auf China und andere Länder schauen, in denen Social Scoring eingesetzt wird, um die Bevölkerung zu bewerten, zu erziehen – und auch mehr oder weniger zu belohnen. Andererseits sind auch wir es längst gewohnt, andere dauernd zu bewerten. Sei es der Amazonlieferant, das Restaurant, den Friseur, das Hotel oder wer und was auch immer: Überall wird man gefragt, ob man nicht eine positive Bewertung geben könne. Wer kann schon voraussagen, wie sich die Situation in Deutschland und Westeuropa in den kommenden Jahren entwickeln wird?

Sehr wichtig ist zweifelsohne auch das Kapitel zu den Deep Fakes. Besonders in Hinblick darauf, dass Beispielsweise auf Instagram kaum noch natürliche Bilder einer Person hochgeladen werden. Üblicherweise sind diese Fotos optimiert. Ob man allerdings der Allgemeinheit beibringen kann, was Deep Fakes sind und wie sie diese erkennen, halte ich für fraglich. Schließlich ist es heute schon so, dass die Mehrheit der Menschen nicht wissen möchte, welche Fallen im Internet auf sie lauern.

Mein Fazit: „Klick“ ist ein wichtiges Buch. Es zeigt sehr genau auf, wo die Probleme neuer Technologien liegen, wo die Fallen im Internet. Ich kann jedem, der wissen möchte, was online alles nicht so gut läuft, nur empfehlen, das Buch zu lesen. Was man aber nicht erwarten sollte, ist eine Handlungsanweisung dafür, wie man neue Angebote nutzen kann – und trotzdem die Kontrolle über seine Daten behält.

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