Digitalisierung – das ist ein sehr theoretischer Begriff. Er klingt nach Firmen, die ihre Produktion von Robotern übernehmen lassen, um noch effizienter zu arbeiten und dadurch höhere Gewinne einzufahren. Sicherlich ist auch das ein Teil der Digitalisierung. Tatsächlich geht es aber um sehr viel mehr, denn die Digitalisierung trifft jeden einzelnen von uns auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Alexandra Borchardt ist Strategic Development Director an der University of Oxford. Bevor sie dort ans Reuters Institute for the Study of Journalism ging, arbeitete sie über zwei Jahrzehnte als Journalistin, zuletzt bei der Süddeutschen Zeitung als Chefin vom Dienst. Jetzt hat sie ein Buch geschrieben: Mensch 4.0: Frei bleiben in einer digitalen Welt (Werbe-Link zu Amazon), das ich kostenlos zur Rezension bekomme habe.
Aha! Danke @alexborchard für diesen Hinweis in „Mensch 4.0 – Frei bleiben in einer digitalen Welt“. Das erklärt einiges! Ich habe sehr oft beim Duschen hervorragende Ideen! @Literaturtest pic.twitter.com/Owc37zeHKC
— Bettina Blass (@kuechenzuruf) 22. April 2018
Wo die Digitalisierung den Menschen trifft
In diesem Buch zeigt die Autorin anhand der Kapitel, in welchen Lebensbereichen die Digitalisierung unsere Leben verändert: Privatsphäre, Wirtschaft, Demokratie, Beziehungen. Man muss gar nicht lange darüber nachdenken, um festzustellen, dass das alle Bereiche sind, die für uns relevant sind: Wirtschaft hat mit unserer Arbeit zu tun, und damit, wie wir Geld verdienen. Durch die Digitalisierung werden Jobs verschwinden. Das an sich ist nicht ungewöhnlich: Auch heute gibt es einige Berufe nicht mehr, die früher wichtig waren. Nehmen wir den Kerzenzieher oder den Hufschmied als Beispiel. Trotzdem muss die Frage gestellt werden: Wenn durch die Digitalisierung sehr viele Menschen ihre Arbeit verlieren werden, wie sollen sie sich finanzieren? Und werden sie wirklich glücklich sein, wenn sie keine Aufgabe mehr haben?
Schöne Beschreibung eines #Influencer von @AlexaBorchardt in ihrem Buch „Mensch 4.0 – Frei bleiben in einer digitalen Welt“. @Literaturtest pic.twitter.com/LY78idOWD4
— Bettina Blass (@kuechenzuruf) 20. April 2018
Digitalisierung: Menschen und ihre Kontakte. Oder Freunde?
„Beziehungen: Ziemlich viele Freunde“ heißt ein weiteres Kapitel. Ich vermute, es geht uns allen in der Zwischenzeit so, dass man sich fragt, wer einige der Menschen sind, die man bei Xing oder Facebook als Kontakt irgendwann einmal hinzugefügt hat. Aber sind Kontakte wirklich automatisch Freunde? Was passiert, wenn wir Beziehungen nur noch aus der Ferne und über eine Verbindung zum Internet führen. Allerdings habe ich speziell in Köln das Gefühl, dass es noch sehr lange dauern wird, bis die Menschen aufhören werden sich im Offline-Raum zu treffen. Die Kneipen und Restaurants sind voll, Abend für Abend. Und ja: Viele Leute haben dabei das Smartphone in der Hand. Aber längst nicht alle. Und: Das Smartphone bei einem solchen Treffen in der Hand zu halten, bedeutet nicht automatisch, dass man mental fern ist. Vielleicht zeigt man Fotos oder sucht nach einer Information, die für die Offline-Diskussion wichtig ist.
Digitalisierung und der Mensch in der Demokratie
Demokratie und Digitalisierung haben mich zuletzt ausführlich auf der #rp18 beschäftigt. Dort war Liz Carolan, eine Frau, die sich mit den Themen freie Daten, Transparenz und Regierungsprojekte beschäftigt. Sie hat in Irland die Transparent Referendum Initiative gegründet. Denn dort wird Ende des Monats über das Abtreibungsrecht in der Bevölkerung abgestimmt. Im Vorfeld hat sich gezeigt, dass sich im Ausland Gruppen gebildet haben, die dort Geld sammeln, um damit ihre jeweiligen Gesinnungsgenossen in Irland zu unterstützen. Außerdem wird in sozialen Medien anonym Werbung geschaltet, aber man weiß häufig nicht, wer hinter den Anzeigen steht, wie viel Geld dafür in die Hand genommen wurde, wie viele Menschen diese Werbung gesehen haben – und vor allem weiß man nicht, wie diese Werbung die Iren beeinflusst.
Zusammengefasst lässt sich sagen: Immer häufiger versuchen Menschen in Drittstaaten die politischen Prozesse innerhalb eines Landes zu beeinflussen. Und das ist eindeutig eine Gefahr für die Demokratie, also für unser aller Leben in Westeuropa. Um so wichtiger und richtiger ist es, dass Alexandra Borchardt dieses Kapitel in ihr Buch aufgenommen hat.
Wo bleibt die Privatsphäre?
Bleibt die Privatsphäre. Es gibt noch immer viele Menschen, die behaupten, sie haben nichts zu verbergen. Ich glaube jedoch, dass jeder Dinge hat, die er nicht einer großen Menge mitteilen möchte. Zwar sind beispielsweise Gehälter in anderen Ländern viel transparenter als in Deutschland. Doch hier zucken Menschen zusammen, wenn über Einkommen und Steuern gesprochen werden. Auch die Vorlieben beim Sex dürften für viele ein Thema sein, das sie nicht in der Öffentlichkeit diskutieren möchten. Und soll das Foto vom Fisternöllchen an Karneval wirklich auf der Internetseite der Kneipe bleiben? So sind wir sehr schnell bei dem Punkt Privatsphäre: Wer weiß, wie sich die Kultur ändert? Wie normal es möglicherweise in einigen Jahren sein wird, dass alles über jeden bekannt sein wird? Und wie selbstverständlich möglicherweise auch. Aus meiner heutigen Sicht halte ich persönlich das nicht für erstrebenswert. Die Frage ist jedoch: Was tut man dafür, dass es so bleibt?
Für mich liegt hier die einzige Schwachstelle des Buches „Mensch 4.0. Frei bleiben in einer digitalen Welt“. Denn so gut, verständlich und wichtig ich die Informationen darin finde – mir fehlt genau dieser Nutzwert, den ich mir eigentlich aus dem Titel erhofft hatte. Ich habe darum mit Alexandra Borchardt ein Gespräch via Skype geführt, um zu diesem Punkt noch mehr zu erfahren:
Was sollten Verbraucher tun, um frei zu bleiben? Geben Sie bitte drei konkrete Tipps.
- Sich nicht von der Technik oder Geräten abhängig machen. Und diese öfter mal ausschalten.
- Ihre Rechte als Staatsbürger wahrnehmen, sich an Diskussionen beteiligen. Das motiviert die Politik dazu, aktiv zu werden und Plattform-Konzernen wie Google oder Facebook Grenzen beim Sammeln und Analysieren von Daten zu setzen.
- Den Konzernen mitteilen, was einem nicht passt. Das setzt sie unter Druck: Sie müssen handeln.Das Problem ist jedoch, dass schon über viele Jahre Daten gesammelt wurden, die nicht mehr aus der Welt verschwinden werden. Darum könnte man den Untertitel des Buches „Frei bleiben in einer digitalen Welt“ auch mit einem Fragezeichen versehen im Sinne von „Ist das überhaupt noch möglich?“. In Ländern wie der Türkei, Ungarn oder Polen zum Beispiel sehen wir, wie schnell ein Politik- oder gar Regimewechsel stattfinden kann. Wenn jeder mit seinen Meinungen und Präferenzen komplett transparent ist, kann man politische Gegner schnell ausfindig machen.
Was sind Ihre größten Sorgen die Zukunft betreffend?
- Smartphones wird es womöglich irgendwann nicht mehr geben – aber digitale Assistenten, das vernetzte Haus, vernetzte Kleidung, vernetzte Autos. Dadurch werden wir noch gläserner, völlig durchschaubar. Dann kann sich niemand mehr Fehler erlauben. Das wird zur Folge haben, dass wir nicht mehr experimentierfreudig sind, und das ist sehr schade, denn so wird sich eine Gesellschaft nicht weiterentwickeln.
- Algorithmen sortieren vor, was uns gefällt, was wir fühlen. So wird aus einer kondensierten Vergangenheit die Zukunft abgeleitet. Das führt dazu, dass es keine Innovationen gibt, denn die Zukunft wird nichts anderes sein als eine fortgesetzte Vergangenheit.
Worauf freuen Sie sich in Bezug auf die Digitalisierung und die Zukunft?
Bildung wird deutlich besser werden, weil jedes Kind individuell und seinen Stärken entsprechend gefördert werden wird. Skeptisch bin ich allerdings beim Thema MOOCs, also der universitären Bildung über Vorlesungen im Internet: Meiner Meinung nach sind persönliche Gespräche mit Blickkontakt unersetzlich, wenn es darum geht, Bildung zu vermitteln.
Außerdem sehe ich große Chancen für die Gesundheit, denn es sind einerseits bessere Diagnosen möglich, andererseits ist es mithilfe moderner Technik möglich, selbst in den entferntesten Ecken der Welt ärztlichen Rat anzubieten – beispielsweise mit Telemedizin. Und ich freue mich auf die selbstfahrenden Autos. Im Luftverkehr gibt es viel weniger Unfälle, seit dort mit Autopiloten gearbeitet wird. Das wird auf den Straßen nicht anders sein. Dadurch wird sich die Mobilität verändern, das wird allerdings auch Konsequenzen für den Arbeitsmarkt haben, denn man wird weniger Fahrer brauchen.
Wie hat sich der Journalismus durch die Digitalisierung schon verändert – und was wird sich noch verändern?
Das ist eine ganze Menge. Um nur einige Beispiele zu nennen:
- Die neuen Technologien bieten gute Möglichkeiten fürs Storytelling und für Datenprojekte. Allerdings bleibt die Frage der Monetarisierung: Die Kunden sind nicht bereit, für digitale journalistische Produkte so viel zu bezahlen wie beispielsweise für ausgedruckte Produkte.
- Zugriffszahlen von Internetseiten können dabei helfen, Produkte zu erstellen, die die Zielgruppe wirklich interessieren. Allerdings besteht dabei auch das Risiko, ein Meeto-Produkt zu werden, das sich nicht mehr von der Masse abhebt.
- Eine Chance liegt darin, eine größere Zielgruppe zu erreichen – zumindest wenn man nicht auf Deutsch publiziert. Auf Englisch erreichen Sie theoretisch die ganze Welt.
- Künstliche Intelligenz kann helfen, bessere Inhalte zu produzieren: Wenn beispielsweise Roboter die Börsenberichte schreiben, können Journalisten die freigewordene Zeit für investigative Recherchen nutzen. Wichtig ist, dass KI nicht nur zur Effizienzsteigerung eingesetzt wird, sondern dafür, Innovationen zu schaffen.
Zum Weiterlesen und -schauen
Alexandra Borchardts Vortrag „Your newsroom in 2020 – It’s the people, stupid!” beim NordiskeMedieDager
Algorithmen: Wir brauchen eine bessere Streitkultur im Internet
Weiterbildung aus dem Netz für Journalisten
Handelsblatt Global Edition (englisch)
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