Aragon Schraga forscht zu artifical neural networks, also zu künstlichen neuronalen Netzen. Seine Ergebnisse setzt er ein, um Firmen zu beraten, die mehr über das Thema machine learning, oft auch als künstliche Intelligenz bezeichnet, wissen möchten. Ich habe ihn kennengelernt, als ich zu einer Buchpräsentation in der Hauptstadt war. Dort wurde Digital Human vorgestellt. Schraga erzählte mir von einer Software, die er mit seinem Team entwickelt, um die Streitkultur im Internet zu verbessern. Eine Möglichkeit, um Fake News und Hate Speech einzudämmen? Da höre ich doch ganz genau hin. Und so kam es, dass ich ihm auch einige Fragen gestellt habe:

Wie genau funktioniert diese Software zur Verbesserung der Streitkultur im Netz?

Wir alle kennen die Rechtschreibkorrektur. Zu etwa 80 Prozent erkennt sie Fehler ganz gut. Warum sollte es also nicht eine Software geben, die in der Lage ist, zu beurteilen, ob der Inhalt einer Antwort faktisch korrekt ist, ob die Antwort relevant ist – oder ob nur jemand Spam gepostet hat? Außerdem soll die Software natürlich auch erkennen, ob der Ton des Posts angemessen ist oder nicht.

Das klingt nach Zensur?

Nein, gerade das nicht. Denn Posts, die nicht zur gestellten Frage passen, werden nicht gelöscht, sondern im Diskussionsverlauf weiter nach unten geschoben. Antworten auf eine Frage, die inhaltlich richtig sind, die relevant sind und in angemessenen Ton geschrieben, werden stattdessen weiter nach oben gesetzt. Dabei spielt übrigens keine Rolle, wie viele Likes eine Antwort von anderen Nutzern bekommt. So schließt man auch aus, dass Bots die Antworten derer, die sie einsetzen, durch ihre Interaktion nach oben oder nach vorne bringen.

Arbeitet die Software mit Algorithmen?

Ja, genau. Der Unterschied zu anderen Firmen ist jedoch, dass wir ein open source Projekt machen. Das heißt, jeder kann Einblick bekommen, wie die Software arbeitet. Wir wollen dabei völlige Transparenz. Grundlage für unsere Algorithmen ist das Ideal der menschlichen Selbstwahrnehmung, die wir in fünf Regeln zusammengefasst haben:

  1. Sei wahr in deinem Wort.
  2. Nehme nichts persönlich.
  3. Mache keine Annahmen.
  4. Gebe immer dein Bestes.
  5. Sei kritisch, aber höre zu.

Diese fünf Punkte und die acht Regeln der Streitkultur sind für uns die Grundlage für die Language Intelligence Zone, LIZ. Das ist der Name unserer Software. Die acht Regeln der Streitkultur haben wir so zusammengefasst:

  1. Streit wird als normales Alltagsphänomen angesehen.
  2. Er gilt als etwas grundsätzlich Erlaubtes.
  3. Streit unterhalb einer bestimmten Eskalationsstufe wird anders behandelt als jenseits dieser Eskalationsstufe.
  4. Die Austragung des Streits unterliegt intersubjektiv bekannten Fairness-Regeln.
  5. Alle Streitparteien haben Rechte, zum Beispiel das Recht, den Streit auf später zu verschieben oder sich Zeit zum Nachdenken zu nehmen.
  6. Streiten ist kein sportlicher Wettbewerb.
  7. Ein guter Streit endet mit einer Einigung und nicht mit dem Sieg der einen Partei über die andere.
  8. Nach Beilegung des Streits ist die Beziehung zwischen den Konfliktpartnern nicht nachhaltig gestört.

Internetseiten, die später mit LIZ arbeiten wollen, können einen entsprechenden Banner einbauen, damit jedem Nutzer von Anfang an klar ist, dass er sich an die Regeln halten sollte, wenn er möchte, dass sein Beitrag in die Diskussion einfließt.

Eigentlich müssten sich doch alle Internetseiten, auf denen kommentiert wird, um diese Software zur Verbesserung der Streitkultur reißen?

Leider ist es nicht so einfach. Vielen Seitenbetreibern ist es wichtig, dass sie viel Traffic und viele Interaktionen haben. Das eine hebt den Werbepreis, das andere hilft, bei Suchmaschinen gut zu ranken. Dabei spielt zunächst keine Rolle, welche Qualität die Beiträge der Seitenbesucher haben. Wird LIZ installiert, kann das dazu führen, dass weniger Besucher auf die Seite kommen, oder weniger Menschen kommentieren. Damit würde beispielsweise der Preis für Werbung fallen.

Wie soll es mit LIZ weitergehen?

Aktuell trainieren wir unsere Datenbank. Wir wollten keine einkaufen, weil wir dort die Algorithmen nicht kennen, und nicht wissen, ob sie manipuliert ist. Das heißt, wir trainieren sie mit unseren eigenen Texten, und das braucht Zeit. Wir haben mit Texten aus dem Sport angefangen, und das auf Deutsch und Englisch. Uns ist wichtig, dass die Datenbank auch Umschreibungen erkennen wird, das dauert natürlich auch. Aber wir haben Zeit – vielleicht sind wir in ein oder zwei Jahren soweit, dass wir sie großflächig einsetzen können.

Und wir wollen auf keinen Fall irgendwann die Kontrolle über LIZ verlieren, wir wollen die Entwicklung weiterhin steuern können. Wir wünschen uns natürlich, dass weltweit so viele Menschen wie möglich mitmachen, damit die Streitkultur im Internet wieder besser wird. Außerdem können wir das Projekt immer nur weiterentwickeln, wenn wir Geld dafür haben.

Woher kommt das Geld?


Wir finanzieren es durch andere Projekte quer. Und wir bekommen unter anderem finanzielle Unterstützung vom Diskuswerfer Robert Harting. Mit ihm habe ich 2016 über Doping im Sport diskutiert. Das Problem dabei ist nicht der Einzelne, der dopt, sondern es ist das gesamte System: Höher, schneller, weiter ist ab einem bestimmten Punkt nicht mehr durch Training zu erreichen. Damit nicht gedopt wird, müssten alle an einem Strang ziehen: Sportler, Sponsoren, Gesundheitsvertreter und natürlich auch die Fans.

Um eine Lösung für das Problem zu finden, sind der Austausch und die Kommunikation miteinander wichtig, also ist ein Forum im Internet eine gute Sache. Aber viele Schreiber verhalten sich dort so, dass man gar nicht mehr diskutieren will: Sie beleidigen und greifen an, obwohl das nicht nötig ist und auch zu nichts führt. Also haben wir uns gedacht, eine lernfähige Software könnte das Problem lösen. Jetzt sind wir an einem Punkt, an dem wir das Projekt langsam bekannter machen.

Wie?


Auf http://www.sechsviertel.de geht es darum, wie Harting sein Leben nach dem Ende seiner Profisportlerkarriere gestalten will. Die ersten Beiträge sind schon fertig und können dort angesehen werden. Außerdem werden wir bald mehr Zeit in das Blog http://blog.pure-sports.org/de/ investieren. Ende des Jahres wollen wir dann dort ein Forum zum Thema einrichten.

Zum Weiterlesen: Wie ich auf Kommentare reagier, die mit Streitkultur nicht zu tun haben

Leserpost aus der Hölle. Teil 3: „Krank, wie man versucht, Leute über den Tisch zu ziehen“
Leserpost aus der Hölle, Teil 2: „Sie leben von den Dummen“
Leserpost aus der Hölle, Teil 1: „Sie bekommen Provisionen“

„Wir brauchen eine bessere Streitkultur im Internet“

2 Kommentare zu „„Wir brauchen eine bessere Streitkultur im Internet“

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